AufRuhr
von Christine Lang, Volker Lösch und Ulf Schmidt
Uraufführung Schauspiel Essen 17. Dez 2021
Inszenierung: Volker Lösch
"Die Vorstellung von einem Recht auf Stadt entspringt nicht vorrangig irgendwelchen intellektuellen Interessen und Modeerscheinungen (auch wenn es davon genügend gibt, wie wir wissen). Sie erhebt sich ursprünglich aus den Straßen und Stadtvierteln, als Ruf der Unterdrückten nach Hilfe und Unterstützung in verzweifelten Situationen. [...] Zudem ist das Recht auf Stadt ein leerer Signifikant. Alles hängt davon ab, wer ihn mit einer Bedeutung füllen darf. Die Finanziers und Bauunternehmer können darauf Anspruch erheben und haben auch jedes Recht dazu. Es gilt aber ebenso für die Obdachlosen und die sans-papiers. Wir müssen uns unvermeidlich die Frage stellen, wessen Rechte identifiziert werden, wobei wir anerkennen, wie Marx es im Kapital ausdrückt, dass zwischen gleichen Rechten die Gewalt entscheidet. Die Definition des Rechts selbst ist Gegenstand eines Kampfes, und dieser muss den Kampf um die Verwirklichung dieses Rechts begleiten."
David Harvey
AUFRUHR – WAS BISHER GESCHAH Dezember 2021 – DIE PREMIERE
Die vierte Welle der Pandemie ist auf ihrem Höhepunkt angelangt. Dennoch erlebt die Bühnen- und Filmversion von „AufRuhr“ ihre Premiere – nach mehreren der Pandemie geschuldeten Anläufen, Abbrüchen und Modifikationen. Wie die konkrete szenische Ausgestaltung des Abends aussehen wird, kann zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Textes – eine Woche vor der Premiere – nicht vorhergesagt werden. Die Situation ändert sich täglich, und wir müssen als Team gemeinsam mit dem Theater auf mögliche neue Anforderungen schnell reagieren. Fast vergessen scheint die Zeit vor Corona, als die Idee zu „AufRuhr“ entstand.
Januar 2015 – IM WRITERSROOM
In Berlin gründet sich nach dem Vorbild amerikanischer Fernsehserien-Produktionen ein „Writersroom“ – bestehend aus den Filmemacher*innen Christine Lang und Christoph Dreher, dem Autor Ulf Schmidt und Regisseur Volker Lösch. Unsere Idee ist es, eine Serie zu entwickeln, welche die zunehmende gesellschaftliche Ungleichheit aus der Perspektive einer „working poor“, einer prekär lebenden Figur, beschreibt. Unsere Hauptfigur soll ihre politische Passivität hinter sich lassen und gemeinsam mit anderen Widerstand leisten, um dann nicht weniger als eine Revolution, also eine fundamentale gesellschaftliche Systemveränderung, anzuschieben. In unseren zahlreichen Arbeitstreffen entwickeln wir un- terschiedlichste Figurenkonstellationen und Szenarien, während sich die reale Ungleichheitssituation draußen immer weiter zuspitzt.
Herbst 2018 – DIE RAUMBÜHNE
Nach der erfolgreichen Grillo-Theater-Produktion „Der Prinz, der Bettelknabe und das Kapital“ von Christine Lang und Volker Lösch im Februar 2018, unter Mitwirkung von Jugendlichen aus dem Norden und dem Süden Essens, schlagen wir dem Schauspiel Essen vor, in der immer noch ungleichsten Stadt Deutschlands einen inhaltlichen, künstlerischen und ästhetischen Schritt weiterzugehen. Anknüpfend an revolutionäre Theater-Konzepte der 1920er Jahre soll „AufRuhr“ eine hybride Installation werden, live verkörpertes Theaterspiel und Spielfilm sollen sich verbinden und erzählerisch durchdringen. Dabei denken wir an eine Raumbühne: Sie kann die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum aufheben und damit neue Verhältnisse zwischen Akteur*innen und Zuschauerschaft etablieren. Sie teilen sich den Raum und agieren in derselben Handlungs- und Wahrnehmungswelt. Die Idee der Raumbühne zielt im Kern stets darauf, das Verhältnis aller Teilnehmenden zu enthierachisieren und zu demokratisieren – im Unterschied zum traditionellen Guckkastentheater. Die Inszenierung „AufRuhr“ soll zudem das Grillo-Theater als Raumbühnentheater wiederbeleben.
Foto: Birgit Hupfeld
2019 – WEM GEHÖRT DIE STADTWir plotten eine Version unseres Stoffs für das Schauspiel Essen und verlegen es fünf Jahre in die Zukunft. Der fiktive Bürgermeister Kühn nimmt sich vor, die Spaltung Essens in einen reichen Teil südlich der A 40 und einen armen, trostlosen Teil nördlich der Autobahn zu überwinden. Inspiriert von der international agierenden Investorin Van Velt verfällt er auf einen ebenso radikalen wie einfachen Plan: Die gesamte nördliche Hälfte der Stadt soll abgerissen und mit utopisch-ökologischen Neubauten ersetzt werden – das gigantomanische Bauprojekt „Essen 5.0.“ ist geboren. Die Finanzierung ist schnell aufgestellt, Klein- und Großinvestor*innen wittern satte Profite. Die Essener Bauunternehmerin Haussmann steht bereit für die Gesamtleitung des Projekts. Nur leider haben sie nicht mit dem Widerstand der Bewohner*innen des Nordens gerechnet, die für das größenwahnsinnige Projekt ihr Zuhause verlieren und umgesiedelt werden müssen. Zu Tausenden tun sie sich zusammen und wehren sich, angeführt von der jungen, prekär lebenden Deutsch-Kurdin Adile aus dem Norden und Lena, der Tochter der Bauunternehmerin, aus dem Essener Süden. Zwar müssen sie die erste Zwangsräumung über sich ergehen lassen – geben deswegen aber nicht auf, sondern entschließen sich, sich den Projekten und Intrigen der Befürworter*innen zu widersetzen. Das geräumte Gebiet wird zurückerobert und besetzt. Ein erneuter, letzter Räumungsversuch der massenhaft aufmarschierenden Polizei mündet in die „Schlacht um Altendorf“, bei der es längst um mehr geht als um das Bauen und Wohnen. Es geht um die grundlegenden Fragen: Wem gehört die Stadt? Und wer bestimmt über das zukünftige Leben in der Stadt: das Kapital oder die dort lebenden Menschen? .
Foto: Birgit Hupfeld
Frühjahr 2020 – UNGLEICHHEIT UND KLIMAWANDELDie Pandemie zwingt uns, das Projekt zu verschieben. Unser Thema wird zunehmend diskutiert und aktueller: Die wachsende Ungleichheit manifestiert sich bei immer mehr Menschen durch das Abrutschen in Armut. Auch der Klimawandel ist inzwischen durch „Fridays for Future“ von der breiten Öffentlichkeit als reale Bedrohung anerkannt worden – und bildet nun auch den thematischen Überbau unseres „AufRuhr“-Themas: Alle wissen, dass wir mit dem ewigen „Schneller, höher, weiter“ unsere Lebensgrundlagen zerstören. Gleichzeitig scheinen wir weiter denn je von der dringend notwendigen Veränderung unseres politischen Systems entfernt zu sein, welches mit seiner zerstörerischen Wachstumslogik die großen Themen Ungleichheit und Klimawandel nicht ansatzweise in den Griff bekommt. Für dieses Paradoxon steht „Essen 5.0“: Wider besseres Wissen machen wir so weiter wie bisher.
Foto: Birgit Hupfeld
Sommer 2021 – AKTIVIST*INNEN AUS DEM RUHRGEBIETNach der zwischenzeitlichen Erstellung eines VR (Virtual-Reality)-Konzepts für „AufRuhr“ kehren wir zu der ursprünglich anvisierten Raumbühnen-Version zurück. Wir beginnen, potenzielle Mitwirkende aus Essen zu suchen, Menschen aus dem Norden, die von Wohnungsnot, Mietwucher und Vertreibung betroffen sind. Doch schnell realisieren wir, dass diese Gruppe nur einen Teilaspekt unseres inzwischen größer gewordenen Grundthemas abdeckt. Unsere Aufmerksamkeit wendet sich nun denjenigen zu, die die Leidtragenden des ungebrochenen „Weiter so“ sein werden: die Generation der unter 30-Jährigen. Wir suchen, interviewen und filmen – auch coronabedingt – junge Aktivist*innen aus dem Ruhrgebiet, welche sich aktiv in unterschiedlichen Feldern engagieren. Gemeinsam ist ihnen, dass sie für eine andere, eine bessere, eine Gegenwelt zum Denk- und Lebensmodell „Essen 5.0.“ kämpfen. Sie berichten von ihren emanzipatorischen Kämpfen und den Widerständen – und sind damit den Protagonist*innen der fiktionalen Erzählung verwandt. Ihre Statements werden neben den Film- und Bühnen-Szenen als dritte ästhetische Ebene in die Inszenierung einfließen.
Oktober 2021 – INTERAKTION VON FILM UND BÜHNE
Die „AufRuhr“-Proben beginnen. Neben den Theaterproben drehen wir an verschiedensten Orten in und um Essen, unterschiedliche Spielweisen, Bühnen- und Filmspiel, treffen aufeinander. Unser Bühnenraum ist von zehn Wänden umgeben, auf die projiziert werden kann. Das Publikum wird in der Mitte auf Drehhockern Platz nehmen, und der Blick kann sich frei ausrichten, 360 Grad. Die Spielenden spielen zwischen den Sitzen- den, die Sitzenden sitzen zwischen den Spielenden. Der Raum ist Sprech- bühne, Filmbühne, Projektionsraum und Panorama zugleich. Er nimmt alles in sich auf, wird zur Simultanbühne eines Nebeneinanders von Menschen und Medien. Bühne und Film treten in Interaktion, die Energie der Live-Aktion wird kombiniert mit der Nähe des Filmschauspiels. Die Figuren, die eben noch im Film zu sehen waren, stehen plötzlich live im Raum. Sie wandern durch die Medien – und das Stück wandert zugleich durch die Stadt. Die Stadt wird mittels filmischer Szenen auf die Bühne geholt, beziehungsweise „AufRuhr“ hat Wurzeln geschlagen in Essen: im reichen Süden, im armen Norden, in Häusern und auf Baustellen, in der Luft und unter Tage. In einer überbordenden medialen Präsenz reflektiert sich dabei sowohl die Idee der Vielgestaltigkeit der Demokratie, sowie die Unübersichtlichkeit einer fiktiven Revolution, von der „AufRuhr“ erzählt.
Stills aus der Filminstallation
Ab Januar 2022 – DIE UTOPIEZunehmend wichtiger für unsere Arbeiten wird die Beschreibung eines Auswegs aus unserem Dilemma: In „AufRuhr“ werden gleich zwei utopische Momente fiktionalisiert. Einerseits kommt es zum kollektiven Widerstand gegen das Projekt, der so groß ist, dass er zum Erfolg führt – ein Szenario, welches sich im Kampf gegen zerstörerische Großprojekte weltweit so noch nicht ergeben hat. Zum anderen wollen die Figuren Adile, Lena, Perry, Grube und die widerständigen Einwohner*innen das Zusammenleben grundlegend neu organisieren. Orientiert an der Räterepublik im Ruhrgebiet 1920 rufen sie die „Autonome Republik Ruhr“ aus, und geben sich selbst eine kommunale Verfassung, die von einem Experiment inspiriert wird, das gegenwärtig von der westlichen Welt fast unbeachtet im Land von Adiles Vorfahr*innen stattfindet: in der autonomen Region Rojava in Nordsyrien. Ein Rätesystem, das die Wünsche und Sorgen der Menschen vor Ort ernst nimmt, und Politik für sie macht – radikal basisdemokratisch und antikapitalistisch. Unser Projekt will nicht weniger als Grenzen aufbrechen und verschieben – und Gemeinsamkeiten in einer utopischen Zukunft erfinden. Ganz im Sinne der gesellschaftlichen Utopie: die Arm-Reich-Grenze aufzuheben durch eine auf das Gemeinwohl aller Essener*innen ausgerichtete Politik und eine neue Gesellschaftsordnung.