DER PRINZ UND DER BETTELKNABE UND DAS KAPITAL

von Christine Lang und Volker Lösch, frei nach Mark Twain. Eine Inszenierung von Volker Lösch am Schauspiel Essen 2018

 

Foto: Martin Kaufhold

DER PRINZ UND DER BETTELKNABE – UND DAS KAPITAL

"Essen-Werden – die Käseglocke in Essen. Auf jeden Fall haben wir mit irgendwelchem Stress, Lärm, sozialen Problematiken, Verdreckung, Leistungsstress, Schulsitzenbleiben, schlechter Stimmung nichts zu tun. Wir haben auch ’nen sehr, sehr geringen Ausländeranteil." (Jugendlicher aus dem Süden)

"Da wo ich wohne, sind nicht so viele schöne Menschen. Ich find’ das schon traurig, wenn ich Leute sehe, die Sachen aus Mülltonnen nehmen." (Jugendliche aus dem Norden)

Im 5. Armuts- und Reichtums-Bericht veröffentlichte die Bundesregierung 2017 neue Zahlen: Die reichsten 10 Prozent der Deutschen besitzen mehr als die Hälfte des Nettogesamtvermögens und die ärmere Hälfte kommt gerade mal auf 1 Prozent. Anfang 2018 veröffentlichte Oxfam eine weitere Studie, die sich auf die Weltgesellschaft bezieht: 42 Reiche besitzen so viel wie die Hälfte der Menschen. Arm und Reich driften auseinander. Auf besondere Weise zeigt sich das in der Stadt Essen: Essen ist eine durch die Stadtautobahn gespaltene Stadt. Die A40 ist dabei eine geografische und eine symbolische Grenze, welche die Stadt als ein „Sozialäquator" in den reichen Süden und den armen Norden teilt. Nördlich der A40 leben bis zu 40 % der Menschen von Hartz IV, während im Süden Geld, Häuser als auch der soziale Habitus vererbt werden. Von Ungleichheit sind vor allem Kinder und Jugendliche und ihre Zukunftsperspektiven betroffen. In Essen ist heute jedes dritte Kind von Armut betroffen. Laut Statistischem Bundesamt ist armutsgefährdet, wer über weniger als 60% des Durchschnittslohns (des Medianeinkommens) verfügt. Die Grenze für diese relative Armut liegt derzeit bei knapp unter tausend Euro. Armut in der Kindheit hat weitreichende Folgen. Nicht nur, dass arme Kinder und Jugendliche einen Mangel bei der Versorgung mit existentiellen Gütern erleben, sich ungesund ernähren, keinen Rückzugsort für Schularbeiten haben und wenig an sozialen Aktivitäten teilhaben – sondern Armut vererbt sich in Deutschland auch besonders häufig. Wer arm aufwächst, bleibt meistens arm. Die soziale Mobilität ist eingeschränkt; so gehen im Süden der Stadt 80% der Jugendlichen aufs Gymnasium, im Norden dagegen im Durchschnitt nur 20%.

DAS MÄRCHEN (VON DER SOZIALEN GERECHTIGKEIT)

Das Märchen „Der Prinz und der Bettelknabe“ („The Prince and the pauper“) wurde von Mark Twain 1881 geschrieben. Die Geschichte spielt Mitte des 16. Jahrhunderts in England und erzählt von zwei Jungen, die sich wie ein Ei dem anderen gleichen, aber unter völlig unterschiedlichen Bedingungen aufwachsen: der eine ist Prinz und wird bald König, der andere ist ein Junge, der unter den schwierigsten sozialen Bedingungen lebt. Aufgrund eines spielerischen Kleidertauschs kommt es zur Verwechslung, so dass beide nun die Lebensumstände und Lebenskämpfe des jeweils anderen kennenlernen. Mark Twain führt damit eine unterhaltsam-didaktische Geschichte vor, in dem die Figuren ein besseres Verständnis für den jeweils anderen entwickeln. Er hat das Märchen geschrieben, um damit eine Idee zu entwickeln, wie Herrschende durch Kenntnis der anderen Lebenswelt wenigstens ein klein wenig gerechter „gemacht“ werden können – ganz vom Thron stoßen ließen sie sich eh nicht. So endet die Verwechslungsgeschichte, unter anderem auch der Gattung des Märchens verpflichtet, mit einem Ende-gut-alles-gut: Der echte König gelangt wieder auf seinen Thron, und weil der Bettler seine Sache als Interimskönig so gut gemacht hat, wird dieser am Hof aufgenommen und in den Stand eines „Edelbediensteten“ erhoben. An der grundsätzlichen Ordnung, dass es Herrschende und Beherrschte gibt, und an Widersprüchen des Systems an sich, rüttelt Twains Fiktion dabei nicht. Dennoch ist dem Motiv des Tausches ein utopisches Moment eingeschrieben: Twain impliziert ja, dass der Mensch zwar vor dem Gesetz nicht gleich, aber im Prinzip, also vor der Natur gleich sei: „Du hast dasselbe Haar, dieselben Augen, dieselbe Stimme und Haltung, dieselbe Gestalt, das gleiche Gesicht wie ich. Hätten wir beide keine Kleider an, so könnte niemand sagen, wer du bist und wer der Kronprinz.“ Es ist demnach nur die soziale Ordnung, welche die große Ungleichheit produziert. – Aber heißt es bei uns im Grundgesetz nicht ausdrücklich: Alle Menschen sind auch vor dem Gesetz gleich?

Für die freie Adaption des Märchens haben wir neben dem Thema der Arm-Reich-Schere, der Beschreibung sozialer Realität von Jugendlichen und der Frage nach Gerechtigkeit vor allem das Tausch-Motiv herausgegriffen. Die konkrete Geschichte des Märchens dient dem Stück als Strukturvorgabe und wird auf die gesellschaftliche Gegenwart übertragen. Aus dem König wird in der Inszenierung daher „der reichste Mann Essens“, ein Patriarch und Lebensmittel-Tycoon. (Der Reichtum des Patriarchen gründet ironischerweise darauf, Lebensmittel für die Armen zu verkaufen: „Die Armen bleiben arm und sind Kunden für immer!“.) Aus seinem Sohn wird ein Alleinerbe, und aus dem Hofstaat im Märchen schälen sich die Figuren der Vermögensverwalterin, des Lehrers eines Elite-Gymnasiums, einer Angestellten und eines Künstlers heraus. Auf der Seite der Armen wird aus der Familie des Betteljungen eine alleinerziehende Mutter, die zugleich als Verkäuferin im Lebensmittelkonzern angestellt ist. Aus den anderen Figuren der Armen des Märchens werden bei uns Streetworker, Schulleiterin und Filialleiter. Und aus den beiden Hauptfiguren werden im Stück Jugendliche aus Essen Nord und Essen Süd. Der erzählerische Kosmos des Märchens und seine Figuren werden so von uns in die gesellschaftliche Realität der Stadt Essen verlegt. Die Essener Jugendlichen spielen die Hauptrolle, sie übernehmen die Parts des Prinzen und des „Betteljungen“. Mit ihrer eigenen Biografie treten sie in einen Dialog mit der fiktionalen Märchengeschichte. Die aus vielen Interviews – nicht nur mit den Jugendlichen, sondern auch deren Eltern, Sozialarbeiter/innen, Streetworkern, Schulleiter/innen, Journalisten, Verkäuferinnen, Unternehmer/innen u.a. – gewonnenen Texte überlagern den Märchentext und ergeben ein Panorama der sozialen Situation der Stadt und der hier existierenden Ungleichheit. Dabei prallen sowohl die unterschiedlichen Milieus des Nordens und des Südens der Stadt aufeinander, als auch unterschiedliche Textebenen: realistische Texte stehen im Kontrast zu farcesken Szenen über das Reichsein.

"In den Herbstferien war ich in New York, dann in den Sommerferien in Südtirol, und in den Osterferien war ich Ski fahren." (Jugendlicher aus dem Süden)

"Das Schönste war, wo wir alle zusammen, als Familie, im Schloss Beck waren. Bottrop. Da, wo Movie-Park ist. Drei, vier Jahre is’ das her." (Jugendliche aus dem Norden)

Die Arm-Reich-Schere erzeugt eine Ungleichheit, die sich auf unsere Demokratie destabilisierend auswirkt, und durch sie rückt die Verteilungsfrage wieder ins Zentrum: Warum haben wenige Menschen so viel und andere gar nichts? Überall kann man lesen, Deutschland geht’s so gut wie nie – aber warum verdienen die ärmeren 40% weniger als noch vor 20 Jahren? Thomas Piketty schreibt in „Das Kapital im 21. Jahrhundert“: Wenn wir nicht wollen, dass sich die Welt in 20 Jahren in den Händen von Börsenhändlern, Top-Managern und Besitzer großer Vermögen befindet, und diese von Ölländern und die Steuerparadiesen geschützt werden, müssen wir uns die Frage nach der Verteilung stellen. Und wir müssen die ökonomischen, sozialen, moralischen und politischen Rechtfertigungen befragen. Für uns heißt das, wir müssen die großen Geschichten befragen, um Neues denken zu können. Es bedeutet auch, dass wir Twains Geschichte nicht bis zum Ende folgen, sondern dass die Jugendlichen durch ihren Rollentausch andere Ideen entwickeln, als die im Märchen vorgeschlagenen – und es bedeutet auch, dass wir mit ihnen und den Produktionsbeteiligten gemeinsam fragen, was man heute konkret gegen die Ungleichheit tun kann. Denn wie Anthony Atkinson schreibt: Die Zukunft liegt weitgehend in unserer Hand!

Text: Christine Lang